15:11 | Ingrid Huber

Mein Platz ist am äussersten Rand von Graz in einem Eichenwald nahe des Ortsschildes der Stadt. Ich sehe den Schlossberg mit Uhrturm und Glockenturm in der Ferne. Strahlender Sonnenschein. Ich bin hier nicht allein, bin umgeben von schwarzstämmigen Eichen, die alle – so wie ich – auf Graz hinunterschauen. Was mich überrascht – das ist wohl das Geschenk dieser Wache an mich – ich darf die Zeit völlig loslassen. Während ich die Zeit loslasse, verflüssigt sie sich. Ich nehme wahr, wie sie durch alles fließt, was in der Stadt ist. Sie plätschert zwischen den Gassen, gurgelt im Untergrund, rauscht durch das Elisabeth-Hochhaus, macht, dass ich mich im Stehen weich und beweglich fühle. Sie hält diese Stadt, ließ in ihr alles werden und wird wieder mit sich spülen, was vergehen soll. Heute schaue und höre ich ihr ein bisschen dabei zu. In dieser Zeit kommen Geräusche und Gedanken. Im Tal unter mir kreischen fast die ganze Stunde Motorsägen. Sie halten nur inne, wenn ein Stück des Baumes fällt, den sie gerade fällen. In den Pausen höre ich einen Hahn krähen (ich wusste nicht, dass Hähne auch zum Sonnenuntergang krähen), Enten schnattern, ein Specht erklopft sich sein Abendessen auf einem Nachbarbaum. Über mir ein Motorflugzeug, das kreist und kreist und kreist. Ich habe die seltsame Idee, dass ich die Menschen, die da unten Bäume fällen und über mir das Flugzeug steuern, gerne kennenlernen würde. Als Bewohner dieser Stadt, die ich im Moment behüte. Würde gerne Eure Gesichter sehen und wissen, wie Ihr heißt. Von da fließen meine Gedanken zu den Menschen in der Stadt, die ich kenne. Ich schicke ihnen einen leisen Gruß von hier oben. Von Haus zu Haus zu Haus….Als die Sonne hinter einem Wolkenstreifen verschwindet, ändert sich die Stimmung. Jetzt ist klar, die Zeit fließt nicht ohne Zäsuren, sie ist unterteilt in 366 Kuchenstücke des Jahreszeitkuchens 2020. Und dieses heutige Stück geht jetzt dem Ende zu. Mit dem Tageslicht verschwindet noch mehr …. und ich frage mich: wer bewacht uns alle, wenn es Nacht ist? Als ich auf dem Heimweg bin, geht hinter mir der Vollmond auf.

© BegleiterInnenfoto: Elfi Schalk