07:09 | Gertrude Aigner
Die letzten Schläge der Lisl sind verklungen, und ich stehe auf dem Balkon meiner Gegenüber-Nachbarin im 11. Stock der Billrothgasse 19 im Osten von Graz. Vor mir das große Panorama:
Ganz links der Ruckerlberg, über den hinweg langsam der Arm des größten der drei Kräne von der Riesenbaustelle der MED-UNI schwenkt und diverse Lasten befördert. Die Kräne lassen den Bleistift der Herz-Jesu Kirche und die kleine Schwester, die Heilandskirche, fast als Zwerge erscheinen. Weiter rechts erkenne ich das Mumuth und das Elisabeth-Hochhaus, dahinter den Schlossberg mit dem Uhrturm und der Lisl. Der Shelter, wo jetzt mein Licht brennt, ist vom hohen Gebäude der Chirurgie verdeckt. Direkt unter mir der Parkplatz von unserem Haus – es sind noch fast alle Autos da, dank Covid und Lockdown – und dahinter die Villen der Billrothsiedlung. Rechtwinklig eingeklemmt von den neuen Gebäuden der MED-UNI und den schönen Jugendstilhäusern des LKH, dürfen sie sich aber noch ins Stiftingtal, das die Bauwut noch nicht völlig zerstört hat, ausbreiten. Dahinter der Leechwald mit seiner Warte und dem für Hubschrauber grün blinkenden Licht. Heute musste noch keiner landen. Das ganze Panorama ist in leichten Nebel getaucht: dunkel, fast schwarz die Hügelkette im Westen, beginnend mit dem Plabutsch, hinter dem gegen Ende meiner Vigil-Stunde sogar deutlich die schneebedeckte Koralpe auftaucht. Die vielen Lichter des Krankenhauses sind jetzt gelöscht. Dort hat der Tag längst begonnen. Auf der großen Baustelle wird gehämmert und gesägt, vereinzelte Radler und immer mehr Autos bringen Leben in die Stadt. Die Krähen waren faul, nur fünf habe ich über den Himmel fliegen sehen. Wenigstens eine hat sich laut krächzend beschwert. So hat sich mir meine Stadt, in der ich fast mein ganzen Leben verbracht habe, heute an meinem 81. Geburtstag präsentiert. Was für ein Privileg, hier stehen und Wache halten zu dürfen! Und das im Bewusstsein der vielen schönen und auch schweren Stunden, die ich, aber auch alle die anderen hier Lebenden, hier verbracht habe. Danke Graz, Danke La Strada
© BegleiterInnenfoto: Helga Moser